Es ist wieder en vogue, Menschen am Rande der Gesellschaft zu Aussätzigen zu erklären!
«Gossenmief zur Begrüssung». So der Titel in der Basler Zeitung. Das Thema: Vergrämung von «Trinkern und Obdachlosen». Es ist wieder salonfähig, Menschen zu diskriminieren, welche von eben dieser Gesellschaft an deren Rand gedrängt worden sind.
Der Titel der Geschichte auf Seite zwei der Basler Zeitung vom 17. Mai 2016 (online nur über Bezahl-Portal verfügbar!) lässt schon erahnen, dass es darin nicht darum geht, für Menschen am Rande der Gesellschaft eine Lanze zu brechen. Vielmehr soll – wieder einmal – das «verwahrloste Pack» thematisiert werden. Jene Menschen also, deren Lebenslauf ausser der Norm stattgefunden hat; deren Lebensbrüche sie irgendwann aus der Spur geworfen haben; deren Erscheinungsbild demjenigen unserer Wohlstandsgesellschaft komplementär zuwider läuft. «Der Basler Bahnhof wird mit dem kommenden warmen Wetter zur Freiluftbeiz für Trinker und Randständige», schreibt Serkan Abrecht in seinem Elaborat. Und weiter schildert er das frühmorgendliche Erscheinen «auf den Bänken und an den Metallstangen vor dem Bahnhof oder in der Schalterhalle». Immerhin: er gesteht zu, dass es nie wirklich gefährlich wird in diesem Umfeld. Doch dann der Wunsch nach der ganz grossen Geschichte: Am Montag (9. Mai 2016) hatte ein Mann eine Frau mit Anzündflüssigkeit übergossen und damit gedroht, sie anzuzünden. Wäre doch das Sahnehäubchen gewesen, wenn das Vorhaben zu Ende gebracht worden wäre! Ob es sich beim mutmasslichen Täter tatsächlich um jemanden aus dem Milieu handelte, lässt der Bericht allerdings offen – wie auch der Autor dieses Pamphlets gegen Menschen, welche sich am Rande der Gesellschaft bewegen. Der Dramaturgie kann es ja nicht schaden.
Dreckig und rechtlos!
Weiter im Bericht festgehalten wird die «störende Wirkung von Obdachlosen, Junkies oder anderen Randständigen im öffentlichen Grund». Natürlich wirken diese Menschen «störend», vergegenwärtigen sie doch den Nicht-Randständigen die Wirklichkeit der Gesellschaft. Und damit eine Realität, der man sich verschliessen muss. Denn sie widerspricht einer unersättlichen Konsumgesellschaft, einer Wegwerfgesellschaft, welche jährlich 2‘000‘000 Mio. Tonnen – in Worten: zwei Millionen Tonnen – noch gute Lebensmittel in den Müll schmeisst, eine Lastwagenkolonne von Basel bis nach Madrid! Einer Wegwerfgesellschaft, welche ihrem unersättlichen Drang nach uneingeschränkter Kommunikation unterordnet, dass der ganze daraus produzierte Sondermüll in der Dritten Welt Menschen, Tiere, ja schlicht die Umwelt vernichtet; dass in der Produktion Kinder 60-Stundenwochen unter gefährlichen Bedingungen arbeiten; dass unsere teuren Klamotten unter unsäglichen Arbeitsbedingungen in Indien, Bangladesch, oder sonst wo von rechtlosen Menschen unter rechtlosen Bedingungen hergestellt werden.
Die «saubere Schweiz» und ihr verlogenes Selbstverständnis
«Diese Obdachlosen- und Alkoholikerszene ist eine unwürdige Visitenkarte». So das Zitat aus Online-Medienkommentaren, das Autor Serkan Abrecht in seine Reportage einbringt. Stimmt! Stimmt aber nur dann, wenn die Gesellschaft ausschliesst, dass gerade sie zur Hauptsache schuld daran ist, dass solche Bilder überhaupt möglich sind. Der Raubtierkapitalismus und seine Skrupellosigkeit macht erst möglich, dass immer mehr Menschen aus den Maschen sozialer Sicherung fallen. Hinzu kommt der weltweite Rechtsdrall in der Politik, der dem Establishment Tür und Tor öffnet. Immer mehr Menschen sind ausser Stande, den Takt des Neoliberalismus zu gehen. Sie werden aus dem Schwungrad der Teilhabe am Leben katapultiert. Ihre Existenzberechtigung wird in Frage gestellt.
Und rechts-nationalistische Medien – unter vielen anderen auch die BaZ – leisten der Entsolidarisierung und Entmenschlichung der Gesellschaft bereitwillig Vorschub.
Diese Menschen drängen sich selber an den Rand. Wer nichts anderes im Kopf hat, als den lieben langen Tag da rum zu sitzen und lauthals zu palavern, der muss sich nicht wundern, das andere Menschen die Arbeiten gehen dies nicht so goutieren. Würden sie sich ruhiger verhalten, sie würden weniger ausfallen, weniger anecken. Gibt es kein Psychologe, der mit denen versucht dem leben ein bisschen Sinn zu geben? Kleine Schritte, damit sie merken, dass man sich eine Freude machen kann, wenn man versucht, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen?
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Diese Menschen wurden von Lebensbrüchen an den Rand gedrängt. Ihr Verhalten am Bahnhof ist das Resultat davon. Ein bisschen Psychologie spielen bringt nichts. Aber darüber werde ich wohl noch öfters schreiben (müssen).
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Das Tragische ist, dass die Gesellschaft Leute, wenn sie erstmal am Rand stehen, gar nicht gern wieder reinlässt. Lücken im Lebenslauf, nicht salonfähige Tätowierungen, Alkohol- oder Drogensucht und andere gesundheitliche Probleme sind für die „Normalen“ allemal Grund genug, solche Leute auszustoßen und auszusperren. Da kriegen sogar die, die eigentlich könnten (ja, Abbas Schumacher, auch die gibt es), kaum wieder einen Fuß auf den Boden. Da haben viele kaum eine Wahl, und ihnen das vorzuwerfen ist zynisch.
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Alles was Sie dazu schreiben können ist, es ist so und so muss e bleiben? Man muss nicht zusehen wie jemand zu Grunde geht und den Tag einfach so wie Sand zwischen den Fingern verrieseln lässt. So helfen Sie diesen Menschen nicht. Ab und zu muss man versuchen sie aufzurütteln.
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Nein, es muss nicht alles bleiben, wie es ist. Man kann den Leuten helfen und sollte das auch tun. Aber es ist in den allermeisten Fällen keine Frage des Aufrüttelns. Ein Alkoholiker kann nicht einfach aufhören, wenn er nur will. Eine Depression wird man nicht los, indem man sich einfach mal am Riemen reißt. Aus der Obdachlosigkeit entkommt man nicht durch Lesen der Wohnungsanzeigen.
Wer diese Klientel vom Bahnhof in schmuddelige Randviertel oder gleich ins Umland verschiebt, hilft ihnen kein bisschen, er schafft nur der Gesellschaft das Elend aus den Augen. Und solange die Mehrheit (und vor allem die zuständigen Behörden) für diese Leute hauptsächlich Verachtung und Ablehnung übrig haben, sie für Schmarotzer und Tagediebe halten und ihnen das Leben schwerer machen anstatt nach sinnvollen Möglichkeiten der Hilfe zu suchen, wird sich leider auch nichts ändern.
Man kann diese Leute auch nicht alle über denselben Kamm scheren. Da gibt es die unterschiedlichsten Typen und Schicksale, und darum braucht es auch die unterschiedlichsten Lösungsansätze. Dazu muss man die Leute aber erstmal ernstnehmen und Einzelfall für Einzelfall herausfinden, was überhaupt Sache ist. Das kostet kurzfristig mehr als der oben erwähnte Platzverweis, und die Kosten scheint man zu scheuen, und ein guter Teil der Gesellschaft würde das offenbar (zu unrecht!) nur als Verwöhnen von Schmarotzern werten.
Die zunehmende Hartherzigkeit und das Aufkündigen der Solidarität, wie es gerade am rechten Rand des politischen Spektrums propagiert wird und immer mehr um sich greift, wird jedenfalls nichts lösen, sondern alles noch schlimmer machen.
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Passiert mir selten, aber Ihrem Schreiben muss ich komplett recht geben. Das kann ich aber auch nur sagen, weil ich es genau so erlebt habe. Abgestürzt und kaum geschehen aussortiert, und weil ich nicht sofort wieder auf die Beine gekommen bin, von den Ämtern mit reihenweise Sanktionen belegt, die alles nur noch schlimmer gemacht haben. Und was die sogenannte Hilfe und Unterstützung angeht, könnte ich eine Geschichte erzählen, bei der sich einem die Haare sträuben. Aber die würde hier in ihrer Gesamtheit den Rahmen sprengen.
Das ist nun neun Jahre her. Ich bin „aufgewacht“ (übrigens nicht, weil mich jemand wachgerüttelt hat, sondern weil ich selber gemerkt habe, wo ich mich befinde). Seither versuche ich, wieder einen Fuss in die Arbeitswelt hineinzukriegen. Die Absagen füllen mittlerweile mehrere Ordner. Und die sich immer weiter ausdehnende Dauer trägt auch nicht gerade zu einer besseren Vermittelbarkeit bei.
Die Bedrohung, in dieser Lebenssituation erneut abzurutschen, ist manchmal überdeutlich spürbar. Rationell gesehen kommt es natürlich nicht in Frage, aber der Kampf gegen den gefühlsmässigen Eindruck, dass diese Gesellschaft für gestrauchelte Menschen schlicht keinen Platz übrig hat, ist immer wieder ein echter Kraftakt.
Und so manches Mal, wenn ich an einem Kiosk vorbeigehe und dort in der Auslage die überlauten Parolen gewisser Tageszeitungen über das sogenannte „Sozialschmarotzertum“ erblicke, reizt es enorm, den ganzen Stapel gleich vor Ort in Stücke zu reissen.
Was die Geschichte mit den „Psychologen“ angeht: Ich kann sagen, dass ich hier einen echten Glücksgriff gemacht habe. Die Person, die mich betreut, ist seit Beginn stets bemüht, auf mich als Mensch und meine aktuellen Problemstellungen einzugehen. Ich weiss aber von mehreren Bekannten, dass sich da und dort regelrechte „Fach-Idioten“ in diesem Feld betätigen. Man verzeihe mir den unflätigen Ausdruck, aber eine bessere Umschreibung dafür kommt mir nicht in den Sinn.
Menschen ohne ein Fünkchen Gespür für die Nöte ihrer Klienten. Die sie nicht mal erkennen, wenn sie mehrfach darauf hingewiesen werden. Na, das Geld für die Sitzungen kriegen sie ja sowieso.
Die Unterstützung derer, die aus welchem Grund auch immer abgerutscht sind, fordert klar Geduld. Und sie fordert etwas Menschlichkeit. Doch dies sind in unserer Gesellschaft vielerorts zu hohe Ansprüche.
Und weil man halt nicht gern als „ungeduldig“ oder gar „unmenschlich“ gelten möchte, kehrt man den Spiess einfach um. Es ist viel einfacher, solche Menschen zu diskreditieren und aus dem Blickfeld hinaus zu befördern, als sich mit ihnen und ihrem Leben auseinanderzusetzen.
Apropos Menschlichkeit: Vielleicht hätte manch „Randständiger“ nur etwas mehr Menschlichkeit in seinem Leben gebraucht, und es wäre nie soweit gekommen.
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Lieber Herr Christen, solch einen guten und positiven Text hätte ich niemals erwartet. Ich danke sehr dafür.
Und ich möchte auch „gnaddrig“ danken, welche(r) sich die Mühe nimmt, so exakt das Problem der Hilfe zu beschreiben. An erster Stelle der Hilfe würde stehen, dass jeder einzelne Bürger sich an der Nase packt und sich nicht mehr über andere Menschen stellt, denn niemand ist besser als jemand anders. Nur eben anders. Jeder Mensch darf doch in seinem Leben machen was er/sie will. Die Schweiz hat genug Geld um alle durchzufüttern, auf der Welt gäbe es sogar genug Essen, dass niemand hungern müsste. Das Problem liegt wo anders, aber dort rüttelt nie jemand. Statt dessen gehen wir einfach auf die Schwächeren los. Und die Schwächeren wiederum auf die noch Schwächeren. Das ist halt einfacher.
Diesen Samstag um 17:00 gibt es eine Vernissage im BelleVue (Ort für Fotografie, Basel) in der ich einen kleinen Ausschnitt aus meiner Arbeit „Treffpunkt Sarg“ zeige. Seit etwa einem Jahr begleite ich die Menschen, die sich dort am Claraplatz aufhalten, mit meiner Kamera. Dazu gibt es die aktuelle Ausgabe des „Peter“s (Jahresbericht vom Verein Schwarzer Peter) zum Mitnehmen in dem es Portraits und kurze Lebensgeschichten dieser Menschen zu sehen und lesen gibt.
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Ich bin tief beeindruckt von dieser Antwort. Sie berührt mich. Und sie wird mich in meinem weiteren Schreiben und Tun sehr inspirieren! DANKE!
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Lieber Markus
Es gibt kaum bessere Worte, um die Situation zu beschreiben, in welcher auch ich mich seit Jahren befinde.
Ich kann kaum beschreiben wie es sich anfühlt, einfach nicht mehr „reingelassen“ zu werden. Ich bewerbe mich seit Jahren für Jobs, die eigentlich weit unter meinem Niveau wären und für welche ich total über-
qualifiziert bin, aber leider weist mein Lebenslauf eben einige Lücken auf, dazu kommt noch mein Alter (47 Jahre) und die Tatsache, dass ich ein Mulatte bin (obwohl in der Schweiz geboren und aufgewachsen).
Ich habe das Gymnasium besucht und zwei Berufslehren abgeschlossen, aber leider ist es offensichtlich
nicht das Ausschlaggebende, welches Wissen und welche Fähigkeiten ein Mensch besitzt, sondern welche Fehler man in der Vergangenheit(!!!) gemacht hat, und dabei ist es völlig Wurscht, dass viele Randständige ihre Süchte total im Griff haben, möglicherweise sogar substituiert und bestens medizinisch und psychologisch betreut sind und wunderbarstens arbeitsfähig und vor allem arbeitswillig wären. Aber wie gesagt, ich habe oft
den Eindruck, dass ich einfach „ums Verrecken“ aus Prinzip keinen Job bekomme, und das ist mit der Zeit schlicht und einfach zersetzend, so geht man dann wirklich kaputt….
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